Grenzen überwinden: Barrierefreiheit in Games, Teil 1

Die Games-Branche hat in Sachen Accessibility zuletzt deutliche Fortschritte gemacht. Menschen mit Behinderung können Spiele immer barrierefreier nutzen – und Gaming in all seinen Facetten genießen. Allerdings gibt es nach wie vor einiges zu tun, denn längst nicht alle Branchen-Akteure haben die Bedeutung von Barrierefreiheit verinnerlicht. In einer zweiteiligen Serie stellen wir die wichtigste Projekte und Initiativen vor – und prüfen auch, wo es momentan noch hakt. Im vorliegenden ersten Teil geht es um die Accessbility-Bemühungen der First-Parties – und um die Leistungen der Non-Profit-Organisation AbleGamers.
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Einstellmöglichkeiten en masse: der Access Controller für die PS5

Analogstick-Kappen. Flache Tastenkappen. Breite flache Tastenkappen. Überstehende Tastenkappen. Tiefe Tastenkappen. Und austauschbare Tastenkappenbeschriftungen. Wer sich die Explosionsgrafik des Access Controllers anschaut, erkennt schnell die enormen Kombinationsmöglichkeiten, die Sonys neues Accessibility-Kit bietet. Anfang des Jahres hatte der Publisher und Plattform-Betreiber den PS5-Controller unter dem Arbeitstitel „Project Leonardo“ auf der CES vorgestellt, Mitte Mai lieferte Sony dann frische Fakten und Produktbilder nach. „Das neue, hochgradig anpassbare Controller-Kit macht Spiele inklusiver und hilft Menschen mit Behinderungen, einfacher, länger und bequemer zu spielen“, heißt es in der beigefügten Pressemitteilung. Tatsächlich lässt sich die Vielzahl an Tasten und Stick-Kappen zu ganz unterschiedlichen, individuell hilfreichen Layouts kombinieren. Über die AUX-Ports des Access Controllers können SpielerInnen zudem Spezialschalter und Analogsticks anschließen; möglich ist auch die Kopplung von bis zu zwei Access Controllern mit einem PS5-Controller. Wann genau die neue Hardware erscheint, hat Sony zwar noch nicht verraten. Für PS5-Fans mit Behinderung ist der bevorstehende Release aber auf jeden Fall eine gute Nachricht.

Deutliche Zahlen
Wie relevant das Thema „Barrierefreiheit“ für die Games-Branche ist, wird schon bei den User-Zahlen deutlich. Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt, dass es rund um den Globus gut 400 Millionen GamerInnen mit Behinderung gibt. Für Deutschland hat der Bundesverband game Mitte Mai entsprechende Daten veröffentlicht: Einer YouGov-Umfrage zufolge zählen sich bundesweit 8,2 Millionen GamerInnen zu Menschen mit Behinderung; rund 14 Prozent von ihnen nutzen zum Spielen spezielle Eingabegeräte. Und obwohl es mittlerweile etliche Accessibility-Initiativen gibt, ist Gaming längst nicht für alle Menschen mit visueller, auditiver, kognitiver, sprachlicher und/oder motorischer Einschränkung eine Selbstverständlichkeit. Menschen mit Behinderung, die Gaming in vollen Zügen genießen wollen, stoßen nach wie vor auf etliche Hindernisse – von nicht barrierefreien Inhalten über unzureichende Hardware bis hin zu Gaming-Events, die nicht wirklich barrierefrei gestaltet sind. Kurz gesagt: Es gibt noch einiges zu tun.

 

Peer Counseling und technische Forschung

 

Einer, der schon viel bewegt hat, ist Mark Barlet. 2004 gründete der US-Amerikaner mit Gleichgesinnten die Non-Profit-Organisation AbleGamers, deren Geschäftsführer er bis heute ist. AbleGamers will Menschen mit Behinderung die Erfahrungen ermöglichen, die mit Gaming einhergehen – nicht nur den Spaß am Spiel selbst, sondern zum Beispiel auch das Knüpfen von Freundschaften. „Unsere Aufgabe ist, Spielen zu ermöglichen, um soziale Isolation zu bekämpfen und inklusive Communities zu fördern“, sagt Barlet, „und so das Leben von Menschen mit Behinderung zu verbessern.“ AbleGamers beschäftigt derzeit 17 MitarbeiterInnen in den USA und Kanada, hat mehrere Partnereinrichtungen und kooperiert mit etlichen Spielefirmen. Eines der drei Hauptbetätigungsfelder umfasst Peer Counseling und technische Forschung. „Mein AbleGamers-Team arbeitet hier ganz konkret in Einzelgesprächen mit Menschen mit Behinderung zusammen“, erläutert Barlet. „Kommt also eine Person mit Behinderungen zu AbleGamers und sagt: 'Ich brauche Hilfe beim Erlernen von Videospielen', dann hilft mein Team aus Peer-BeraterInnen und IngenieurInnen dabei, Lösungen zu entwickeln, die dieser Person den Einstieg ins Spiel ermöglichen.“ Das helfe vor allem Menschen mit körperlichen Behinderungen, so Barlet. Ziel von AbleGamers sei jedoch, alle Menschen mit Behinderung beim Gaming zu unterstützen – also beispielsweise auch neurodiverse Personen, die unter Traumata und Angststörungen leiden.

Updates zu Projekten
Das zweite große Tätigkeitsfeld von AbleGamers ist die Schulung von SpieleentwicklerInnen: Dafür beschäftigt die Organisation ein eigenes User-Research-Team. Im Mittelpunkt der Schulungen steht ein praxisorientiertes Programm für barrierefreie Spielerfahrung, so Barlet: „Die EntwicklerInnen lernen, Wahlmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen in ihre Spiele einzubauen.“ Das AbleGamers-Team liefert den Devs regelmäßige Einschätzungen zu laufenden Spieleprojekten, damit die fertigen Spiele dann möglichst barrierefrei werden. Der dritte Schwerpunkt von AbleGamers liegt in der Community-Arbeit, berichtet Barlet. Das Inklusionsteam kümmert sich also beispielsweise darum, dass Shows und Konferenzen barrierefreier werden – und auch, dass Menschen mit Behinderung in Communities willkommen geheißen und akzeptiert werden.

AbleGamers kooperiert auch mit großen Spielefirmen wie Sony oder Microsoft: Mit ihrem Input haben Barlet und Co. sowohl zur Entwicklung des Access Controllers wie auch des Xbox Adaptive Controllers beigetragen. Beim Thema „barrierefreie Games“ sei die Spielebranche sehr viel reifer geworden, konstatiert Barlet: „Noch vor fünf Jahren hätten wir möglicherweise ein Gespräch mit einer Spielefirma geführt, die ein paar Monate vor der Veröffentlichung eines Spiels stand und gesagt hätte: 'Hey, was machen wir in puncto Barrierefreiheit?' Und die Antwort wäre meist gewesen: 'Nichts. Euer Spiel ist schon fertig – und viele dieser Änderungen würden erfordern, dass das Spiel im Kern überarbeitet wird.'“ Heute hingegen führe man diese Gespräche meist sehr viel früher – zum Teil sogar vor Beginn der Coding-Phase. Durch diese frühe Beratung würden die finalen Produkte viel barrierefreier, freut sich Barlet. Auch werde die Umsetzung der Barrierefreiheit dadurch merklich günstiger.

Vielfalt an Features
Doch wie sieht diese Barrierefreiheit eigentlich genau aus? Welche Features können Studios integrieren, um die Accessibility ihres Produkts gezielt zu erhöhen? Als leuchtende Beispiele nennt Barlet die Sony-Titel God of War Ragnarök und The Last of Us Part II, die er als „verblüffend zugänglich“ beschreibt. Besonderes Lob hat er für Ragnarök übrig, dessen Accessibility-Optionen im PlayStation-Blog genauestens aufgelistet werden. „Dieses Game können auch Menschen mit starken Sehbehinderungen spielen – möglicherweise sogar Personen, die als blind gelten“, sagt Barlet. Als wichtige Accessibility-Features nennt der Experte „Visuals, Navigationshilfen, Lock-ons, Zielhilfe, Toggles, Menüs, Zeitvorgaben für Rätsel, Auto-Picking-Locks, Untertiteloptionen und Bewegungsunschärfe“. Die äußerst umfangreiche Liste zeige, wie stark sich Sony für Barrierefreiheit einsetze, so Barlet. „Ich möchte also nicht ein bestimmtes Merkmal herausgreifen – das gesamte Spiel ist ein absoluter Triumph."

 

Das gesamte Spiel ist ein absoluter Triumph

 

Mark Friend ist Accessibility Lead bei den PlayStation Studios – und damit für die Barrierefreiheit der Inhouse-Games verantwortlich. Anlässlich des Global Accessibility Awareness Day (GAAD) am 18. Mai beschrieb Friend im PlayStation-Blog, wie der Publisher an das Thema „Accessibility“ herangeht. „Ein möglicher Ansatz für Barrierefreiheit ist, SpielerInnen die Möglichkeit zu geben, ihr Spielerlebnis an ihre individuellen Spielstile und Bedürfnisse anzupassen – und es zu verfeinern“, so Friend. Als klassische Beispiele für barrierefreies Design nennt er Einstellungen für Farbenblindheit, Untertitel und die Visualisierung von Sound-Effekten. „Außerdem werden Settings, die es schon seit Jahren in Spielen gibt, als grundlegende Accessibility-Features betrachtet – zum Beispiel eine neu zuweisbare Steuerung, Lautstärkeregler und die Anpassung des Schwierigkeitsgrads“, ergänzt Friend. Sogar der inzwischen sehr gängige Performance Mode könne als Accessibility-Feature betrachtet werden: Schließlich könne die höhere Bildwiederholrate SpielerInnen vor „visuellem Unbehagen“ bewahren. „Bei Accessibility geht es darum, Annahmen über Bord zu werfen, was für alle SpielerInnen das Beste ist – und sie stattdessen selbst die passenden Optionen wählen zu lassen“, fasst Friend zusammen. „So werden den mehr als eine Milliarde Menschen mit Behinderungen in aller Welt mehr Spielmöglichkeiten eröffnet.“

Direkter Erfahrungsaustausch
Auch Microsoft zeigt beim Thema „Barrierefreiheit“ großes Engagement. Der Xbox Adaptive Controller kam bereits 2018 auf den Markt, auch viele Xbox-Games glänzen mit umfangreichen Accessibility-Features. „Mit unserem Versprechen 'Gaming for Everyone' sind wir bestrebt, Xbox zu einem Ort zu machen, an dem alle Spaß haben können – inklusive der über 400 Millionen SpielerInnen mit Behinderung“, sagt  Sandro Odak, Communications Manager für Xbox DACH bei Microsoft. „Wir investieren kontinuierlich in Barrierefreiheit, beispielsweise in Form adaptiver Hardware wie dem Xbox Adaptive Controller – oder über software-basierte Funktionen, die inklusives Gaming fördern.“ Zugleich lege man großen Wert auf einen direkten Erfahrungsaustausch mit Usern, Communities und Studios, um Barrierefreiheit insgesamt voranzubringen. „Es ist wichtig, SpielerInnen mit Behinderung als Mitwirkende in die Entwicklung einzubeziehen“, betont Odak. Dieser Austausch habe maßgeblich zur Design-Entwicklung, Funktionalität und Verpackungsgestaltung des Xbox Adaptive Controllers beigetragen. Der Communications Manager nennt eine Reihe von Initiativen, mit denen Microsoft die Vernetzung vorantreibt – zum Beispiel das „Xbox Accessibility Program“, die „Xbox Accessibility Insiders League“ und auch den „Microsoft Gaming Accessibility Testing Service“. Bei der Entwicklung barrierefreier Spiele arbeite man eng mit Studios wie Obsidian Entertainment (Grounded) und Turn10 (Forza) zusammen. 2023 wird Microsoft beispielsweise – zusammen mit dem neuen Forza Motorsport – auch ein Feature namens „Blind Driving Assists“ einführen, das Rennspielfans mit Sehbehinderung zugute kommen soll. Zudem hilft der Konzern SpieleentwicklerInnen mit einem kostenfreien Lernangebot dabei, barrierefreie Design-Entscheidungen zu verinnerlichen. Titel: „Gaming Disability Fundamentals Learning Path“.

Neben barrierefreier Hard- und Software will Microsoft Inklusion auch verstärkt an öffentlichen Orten etablieren. Dazu zählt unter anderem ein barrierefreier gamescom-Stand, den Microsoft laut Odak jährlich verbessert. Ein weiteres Projekt ist der „Xbox SeniorInnen Workshop“, der sich an BetreuerInnen in Pflegeeinrichtungen richtet – beispielsweise im St.-Elisabeth-Stift in Berlin. „Hierbei geht es vor allem um die Fortbildung von Pflegepersonal in so wichtigen Einrichtungen wie Alterszentren, um SeniorInnen möglichst einfachen Zugang zum Gaming zu ermöglichen“, erläutert Odak. Forschungen hätten ergeben, dass regelmäßiges Spielen bestimme Hirnareale stimuliere, die für räumliches Denken, Erinnerungsbildung, feinmotorische Fähigkeiten und strategische Planung zuständig seien. „Damit können Spiele zum Beispiel helfen, den Symptomen von altersbedingter Demenz entgegenzuwirken“, erklärt Odak. Auch sonst hat Xbox sein Bemühen um Barrierefreiheit 2023 nochmals verstärkt: Anlässlich des Global Accessibility Awareness Day wurden etliche Support-Seiten für Barrierefreiheit aktualisiert, auch die Zahl der Xbox-BotschafterInnen habe weiter zugenommen. „Aktuell ist auch unser Engagement als Teil des Kulturprogramms der Special Olympics World Games Berlin 2023“, berichtet Odak. „Hier bieten wir den AthletInnen und Unified PartnerInnen, die Berlin im Juni besuchen, eine Lounge mit inklusiven Gaming-Stationen für ausgedehnte Spiele-Sessions – zum Entspannen während und zwischen den Wettkampftagen.“ Odak verweist in diesem Kontext explizit auf ein Networking-Event bei Microsoft Berlin: Am 19. Juni dreht sich dort alles um „Inklusion in Gesellschaft & Kultur“.

 

Wir investieren kontinuierlich in Barrierefreiheit

 

Praktische Patterns
Sony und Microsoft fahren also aufwendige Programme, um Barrierefreiheit zu promoten. Die Organisation AbleGamers bietet derweil einen tollen Service, um auch kleinere Entwicklerstudios mit ins Boot zu holen. Mark Barlet verweist auf die „Accessible Player Experience (APX) Design Patterns“, die auf accessible.games kostenfrei und open source abrufbar sind. Dabei handelt es sich um Entwurfsmuster für Accessibility-Features, die sich in die Spieleentwicklung einbauen lassen. „Das Schöne an den Entwurfsmustern ist, dass sie iterativ sind – und dass sie den Prozess der Spieleentwicklung sehr gut ergänzen“, sagt Barlet. Entwicklerstudios können mit den Vorlagen recht unkompliziert barrierefreie Spiele produzieren – und so zur allgemeinen Barrierefreiheit beitragen.

All diese Initiativen sind ja sehr löblich – doch wie barrierefrei ist die Branche mittlerweile eigentlich? Mark Barlet räumt ein, dass „bestimmte Teile“ der Spieleindustrie hier noch deutlich im Rückstand sind. „Ich denke, einige der mittelgroßen und kleineren Studios müssen noch immer Kompromisse bei Features und Accessibility machen, weil ihre Budgets etwas knapper sind“, so der Experte. „Für sie stellt sich also die Frage: 'Welche Früchte hängen so niedrig, dass wir mit ihnen so viele Leute wie möglich zum Spielen bringen können?'“ Diesen Studios ständen für Barrierefreiheit leider deutlich weniger Ressourcen zur Verfügung als einem PlayStation oder einem Activision. Alles in allem sei die Branche aber auf einem guten Weg, sagt Barlet: „Es gibt eine breite Bewegung, die sich um mehr Barrierefreiheit für alle bemüht.“

In Teil 2 unseres Specials (IGM 09/2023) widmen wir uns weiteren Accessibility-Aspekten – vom E-Sport über Mobile bis hin zu den Erfahrungen, die Menschen mit Behinderung ganz konkret mit Spielen und Hardware machen. (Achim Fehrenbach)

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