Kaum noch Hype um Google Stadia: Wie geht's jetzt weiter?

Googles Spielestreaming-Dienst Stadia wurde bereits im Vorfeld als Revolution gepriesen, konnte viele seiner Versprechen dann aber nur mühsam oder noch gar nicht einlösen. IGM skizziert den holprigen Start der Plattform, analysiert die plötzliche Schließung der Spieleentwicklungsabteilung im Februar 2021 und prüft, wie es in Zukunft weitergeht.
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© fotogestoeber/stock.adobe.com
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Zeitsprung zurück ins Jahr 2018. Mit vergleichsweise wenig Tamtam ruft Google im Oktober eine Betatest-Phase für eine neue Cloud-Gaming-Technologie ins Leben, die zunächst nur den Arbeitstitel "Project Stream" trägt. Accounts bei Google und Ubisoft sowie eine 25-MBit-Internetanbindung vorausgesetzt, können Interessierte mit Project Stream in ihrem Chrome-Browser den Open-World-Hit "Assassin's Creed: Odyssey" spielen – ganz ohne zeitraubende Installation, nervige Updates und Patches oder einen leistungsstarken Gaming-PC beziehungsweise eine aktuelle Spielekonsole.

Project Stream erntet sowohl bei Betatestern als auch in der Presse viel Zuspruch und wird schnell als würdiger Konkurrent zu damals bereits etablierten Streaming-Diensten wie PlayStation Now und GeForce Now gehandelt. Die offizielle Ankündigung sowie die Umbenennung in Stadia erfolgt allerdings erst am 19. März 2019 auf der Game Developers Conference in San Francisco. Im Rahmen einer knapp einstündigen Keynote stellen CEO Sundar Pichai und weitere bekannte Branchenveteranen, allen voran Phil Harrison und Jade Raymond, Googles Großangriff auf den Gaming-Sektor im Detail vor. Die Show ist bunt, gut strukturiert und voller spannender Inhalte. So wird unter anderem ein hochwertiger, eigens für das System konzipierter Controller enthüllt, der sich zur Latenz-Minimierung direkt ins heimische WLAN-Netz einklinkt. Zudem erläutern die Verantwortlichen erste Eckpunkte zur Rechenleistung sowie zu geplanten Exklusivfunktionen wie Crowd Choice (YouTube-Zuschauer können bei Spielsituationen mitentscheiden), Stream Connect (Video-Streams von Online-Mitspielern erscheinen als Bild-in-Bild-Einblendung), Crowd Play (Spieler klinken sich direkt in die Multiplayer-Partie eines Streamers ein) und State Share (über einen Link in einem geteilten Screenshot oder Video spielt man an der gezeigten Stelle direkt weiter).

Doch damit nicht genug: Kurz vor dem Ende der Pressekonferenz zaubert Google noch ein Ass aus dem Ärmel – und kündigt die Gründung einer eigenen, von Jade Raymond angeführten Spieleentwicklungsabteilung namens Stadia Games and Entertainment an. "Stadia wird eine treibende Kraft sein und die Zukunft von Spielen und Entertainment definieren", so Raymond, die zuvor unter anderem Ubisoft Toronto und die EA Motive Studios mit aufgebaut hatte. Rückblickend betrachtet ist der Event – obwohl viele Fragen offenbleiben – ein voller Erfolg und schürt große Erwartungen, was die Zukunft der Plattform angeht.

Start voller Stolpersteine
Ziemlich genau acht Monate später – am 19. November 2019 – geht Stadia schließlich in 14 verschiedenen Ländern mit knapp über 20 Spielen an den Start. Im Gegensatz zur Vorberichterstattung fällt das Medienecho diesmal gemischt aus. Und das aus guten Gründen: Zwar können das eigentliche Streaming-Erlebnis, der Controller und der schnelle Wechsel zwischen unterschiedlichen Geräten überzeugen, als Gesamtpaket erntet Stadia aber auch viel Kritik. Zum einen, weil zahlreiche im Vorfeld angepriesene Features wie beispielsweise die Einbindung des Google Assistant (der auf Zuruf Spieletipps verraten sollte), ein Erfolge-System, Family Sharing, Crowd Play, Crowd Choice, State Share und Stream Connect zum Launch fehlen. Zum anderen, weil man mobil nur auf einer sehr eingeschränkten Anzahl an Smartphone- und Tablet-Modellen spielen kann und zahlreiche Titel – entgegen der Versprechungen und selbst bei rasend schneller Internetleitung – nicht nativ in 4K-Auflösung und mit konstanten 60 Bilder pro Sekunde gerendert werden.

Weiterer Knackpunkt: Die im Stadia-Store aufgerufenen Games-Preise sind oft spürbar höher als auf anderen Plattformen. Gleiches gilt für das Preis-Leistungs-Verhältnis eines Stadia-Pro-Abos, das 4K-Streaming, HDR-Unterstützung und Zugriff auf verschiedene monatliche Gratisspiele gewährt, dem Vergleich mit Spiele-Flatrates wie PlayStation Now oder dem Xbox Game Pass aber zu keiner Zeit standhalten kann. Darüber hinaus entbrennen erste Diskussionen zum unglaublichen Datenhunger von Stadia, der bei einem 4K-Stream bei bis zu 20 Gigabyte pro Sekunde liegt. Für Spieler, deren Internet-Flatrate auch zu Hause im WLAN ab einer bestimmten Datenmenge gedrosselt wird, ein riesiges Manko.

Das Medienecho fällt diesmal gemischt aus

2020: Ausbessern und erweitern
Google selbst nimmt sich kurz darauf die nicht zu überhörende Kritik zu Herzen und bessert kontinuierlich nach. So werden unter anderem das Erfolge-System hinzugefügt, die Unterstützung für weitere Mobilgeräte ergänzt, der Download von selbst erstellten Bildschirmfotos gestattet und längst überfällige Funktionen wie Stream Connect in ersten Spielen wie "Ghost Recon Breakpoint" implementiert. Im April 2020 startet Stadia außerdem in einer kostenlosen 1080p-Basis-Variante, die keine Premiere Edition mehr voraussetzt und keine monatlichen Abokosten aufweist. Zahlen müssen Interessierte lediglich für die gewünschten Spiele.

In Sachen aktueller Software-Nachschub nimmt Stadia ebenfalls Fahrt auf – wenn auch vergleichsweise gemächlich. So erscheinen 2020 unter anderem Multiformat-Schwergeweichte wie "Doom Eternal", "Marvel's Avengers", "Watch Dogs: Legion", "Assassin's Creed Valhalla", "Immortals Fenyx Rising" und "Cyberpunk 2077" sowie einige (zeit)exklusive Veröffentlichungen wie Konamis Multiplayer-Sause "Super Bomberman R Online", Robot Entertainments Tower-Defense-Action-Mix "Orcs Must Die 3!" und der Spielebaukasten "Crayta" von Unit 2 Games. Nicht zu vergessen die Early-Access-Version von Larian Studios' Rollenspiel-Epos "Baldur's Gate 3", das neben "Dead by Daylight" endlich mit der lang erwarteten Crowd-Choice-Funktion aufwartet.

Wirklich umwerfende Big-Budget-Produktionen, die es nur exklusiv auf Stadia gibt und die die Attraktivität des Angebots weiter steigern würden, sind jedoch weit und breit nicht in Sicht. Wie auch, denn die hauseigenen Studios von Stadia Games and Entertainment im kanadischen Montreal (eröffnet im Oktober 2019) und im kalifornischen Los Angeles (eröffnet im März 2020) befinden sich noch mitten in der Aufbauphase. Aber auch die am 19. Dezember 2019 von Google aufgekauften Typhoon Studios aus Montreal haben im ersten Jahr noch kein neues Produkt vorzuweisen, sondern konzentrieren sich vielmehr auf die Stadia-Umsetzung ihres Geheimtipps "Journey to the Savage Planet", der im Februar 2020 zunächst für PC, PlayStation 4 und Xbox One und dann im Mai 2020 für Nintendo Switch erschienen war. Erschwerend kommt hinzu, dass Google Stadia erst ab Mitte Dezember 2020 auf iOS-Geräten genutzt werden kann. Bedingt durch bestimmte App-Store-Restriktionen von Apple allerdings nur mittels Web-Anwendung und nicht in einer eigenes dafür optimierten iOS-Stadia-App.

Wie gut das so wichtige Weihnachtsgeschäft im Jahr 2020 für Stadia lief, lässt sich rückblickend betrachtet nur schwer sagen, denn offizielle Nutzer-, geschweige denn Verkaufszahlen gibt Google bis heute nicht bekannt. Fest steht trotzdem, dass viele Stadia-Fans zu diesem Zeitpunkt noch recht hoffnungsvoll in die Zukunft blicken. Nicht zuletzt, weil Google einige durchaus reizvolle Einsteigerangebote schnürt und das heiß ersehnte "Cyberpunk 2077" auf Stadia zum Start deutlich runder und stabiler läuft als auf PlayStation 4 und Xbox One.

Der Paukenschlag: Stadia Games and Entertainment wird eingestellt
Nur zwei Monate später dann allerdings der große Knall, mit dem kaum jemand gerechnet hat: Am 1. Februar 2021 verkündet Phil Harrison, dass man die Stadia Games and Entertainment Abteilung schließen wird und sich stattdessen in Zukunft darauf konzentriert, Stadia als Technologie-Plattform weiter auszubauen. "2021 erweitern wir unsere Bemühungen, Entwicklern und Publishern dabei zu helfen, die Vorteile unserer Plattform zu nutzen und Games direkt an Spieler zu liefern", so Harrison. Hauptgrund für die Entscheidung seien dabei vor allem die stark gestiegenen Kosten im Bereich der Spieleentwicklung. Zitat Harrison: "Klassenbeste Games von Grund auf zu erschaffen, braucht viele Jahre und erfordert ein signifikantes Investment – und die Kosten wachsen exponentiell." Zugleich unterstreicht er in seinem Blog-Eintrag die Absicht, Betroffenen dabei zu helfen, neue Rollen im Unternehmen zu finden.

Die Ankündigung muss viele Mitarbeiter dennoch wie ein Schlag ins Gesicht getroffen haben, denn noch am 27. Januar 2021 hatte Harrison einem Wired-Bericht zufolge (https://www.wired.com/story/google-stadia-games-entertainment-collapse/) das "hohe Plattform-Budget und den Investitionsrahmen" in einer internen E-Mail an die Stadia-Belegschaft hervorgehoben. Nicht nur das: Er betonte den "großartigen Fortschritt, ein diverses und talentiertes Team und ein starkes Line-Up an Stadia-exklusiven Spiele aufzubauen".

Schenkt man dem Wired-Bericht und den dort zitierten Stadia-Angestellten Glauben (die nicht namentlich genannt werden wollten), dann haben sich die Schwierigkeiten aber wohl schon einige Zeit zuvor angebahnt. Ein Problem: Allem Anschein nach wurde der Prozess, neue Mitarbeiter für die zahlreichen Projekte der Games-Abteilung anzuheuern (geplant waren über 2000 weitere Personen in einem Zeitraum von fünf Jahren), viel zu spät begonnen. Ferner soll er sich durch komplexe Bewerbungsverfahren unnötig und teils über Monate hinweg in die Länge gezogen haben. Dazu kamen laut Wired weitere Hürden, etwa die Tatsache, dass der Kauf einiger Spieleentwicklungs-Tools aufgund von Sicherheitsbedenken seitens Google zunächst nicht gestattet wurde. Sollten die Aussagen der zitierten Personen zutreffen, dann war Google 2020 zudem nicht in der Lage, die internen Erwartungen hinsichtlich der Abozahlen zu erfüllen. Plus: Zahlreiche Entwickler hatten wohl die Vorgabe, Spiele-Prototypen so zu designen, dass sie von Dingen wie Cloud-Computing, State Share und anderen Technik-Features Gebrauch machen. Das eigentliche Entwerfen von unterhaltsamen Spielkonzepten soll dadurch vielfach in den Hintergrund getreten sein. Und dann wäre da natürlich noch die Corona-Pandemie, die Stadia-intern ab April 2020 zu einem Einstellungsstopp führte. Die Folge: Dort, wo neues Personal dringend gebraucht wurde, fehlte es. "Wir interpretierten das als einen Mangel an Engagement seitens Google, Inhalte voranzutreiben", wird eine Quelle von Wired zitiert.

Jason Schreier, einer der bekanntesten US-Enthüllungsjournalisten aus der Games-Branche, hat sich ebenfalls sehr ausführlich mit der Akte Stadia auseinandergesetzt und kommt zu ganz ähnlichen Ergebnissen. "Laut zwei Personen – die mit shawn dasder Angelegenheit vertraut sind, aber darum baten, bei der Diskussion von privaten Informationen nicht genannt zu werden – hat Stadia die Ziele für Controller-Verkäufe und monatliche aktive Nutzer um Hunderttausende Einheiten verfehlt", lautet eine seiner Aussagen in einem vielbeachteten Bloomberg-Report (https://www.bloomberg.com/news/articles/2021-02-26/google-video-game-unit-stadia-struggled-to-be-googley-enough). Ergänzend dazu berichtet Schreier von Stadia-Mitarbeitern, die es stark befürwortet hätten, wenn der Dienst im Herbst 2019 zunächst als größerer (Beta-)Testballon an den Start gegangen wäre und nicht gleich als finales Produkt. Schließlich hätte das ja bei anderen Google-Erfolgen wie Gmail auch sehr gut funktioniert. Dass genau diese, sonst für Google-Produkte typische Experimentierphase übersprungen wurde, soll wiederum am Widerstand aus der Stadia-Chefetage gelegen haben. Allem voran an Harrison, der zuvor schon den Launch von eher traditionellen Konsolen wie der PlayStation 3 und der Xbox One mit koordiniert hatte.

Wohin geht die Reise?
Keine Frage, das Aus von Googles hauseigener Spieleentwicklungsabteilung ist bitter. Für die Community, das Image von Stadia sowie die betroffenen Entwickler, die laut Video Game Chronicle bereits an Stadia-Exklusivspielen wie "Journey to the Savage Planet 2" und einem Multiplayer-Titel mit dem Codenamen "Frontier" gearbeitet haben sollen.
 

Das Schicksal von Stadia ist noch nicht besiegelt

Das Schicksal von Stadia ist damit aber noch nicht besiegelt. Denn wer sich die Evolution der Branche anschaut, weiß auch: Harte Entscheidungen können einen schwankenden Kahn durchaus in ruhigere Gewässer manövrieren. Dass Google hier und dort bereits Neues ausprobiert und weiter nachbessert, ist schon zu beobachten. Etwa beim Thema Spielepreise: So wurden beispielsweise Ende April 2021 zahlreiche Top-Titel zum Teil massiv rabattiert – auch für Nutzer ohne Stadia-Pro-Abo. Bei der "Read Dead Redemption 2: Ultimate Edition" etwa betrug die Preisdifferenz zwischen Stadia und Steam am Vergleichstag (22. April 2021) 36 Euro, bei der "Madden NFL 21 Superstar Edition" waren es 54,80 Euro und bei der "NBA 2K1 Mamba Forever Edition" sogar 67 Euro. Hoffnungsvoll stimmt darüber hinaus das zuletzt wieder verstärkt beworbene "Stadia Makers"-Programm (https://stadia.dev/blog/announcing-stadia-makers/), welches es kleinen Entwickler ermöglicht, ihre Unity-basierten Titel auf Stadia zu veröffentlichen. Am 13. Mai 2021 etwa soll auf diesem Weg die Weinanbau-Simulation "Hundred Days" erscheinen, im Sommer 2021 das narrative Cyberpunk-Abenteuer "Foreclosed" und im Herbst 2021 das mit musikalischen Bosskämpfen gespickte Action-Adventure "Figment 2: Creed Valley".

Den Fahrplan für kommende Blockbuster-Titel sollte Google hingegen noch viel klarer präzisieren, damit die Fan-Community weiß, worauf sie sich in Zukunft freuen kann. Zugegeben, mit "Resident Evil Village" von Capcom, "Far Cry 6" und "Riders Republic" von Ubisoft, "Life is Strange: True Colors" von Square Enix" sowie "Humankind" von Sega hat Stadia bereits einige große Namen auf der Release-Liste. Danach wird die Luft allerdings schon ziemlich dünn. Wichtig für ein gesteigertes Nutzervertrauen wäre überdies, endlich eine Roadmap zu erhalten, die grob skizziert, wie der Service in den nächsten sechs bis zwölf Monaten ausgebaut werden soll und wann weitere Spiele von Sonderfunktionen wie State Share, Crowd Choice und Co. profitieren. Ob all das tatsächlich umgesetzt wird, bleibt allerdings abzuwarten. Denn wenn die Stadia-Verantwortlichen 2019 und 2020 eines gelernt haben, dann, dass "zu viel versprechen" auf lange Sicht auch für ziemlichen Ärger sorgen kann. (soe/bpf)

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